Pollen

Pollen
29/07/2001

Das Aufstehen fällt nicht immer leicht. Mal ist es etwas einfacher, mal schwieriger. Insgesamt konfrontiert es uns jeden Tag aufs Neue mit der unbewussten Frage: Wie viel Lust hab ich eigentlich gerade aufs Leben. Und wenn da nicht schon mal einer gewesen wäre, damals, vor langer Zeit, wir erinnern uns, der es uns vorgemacht hat, das Auferstehen, wer weiß. Vielleicht hätten wir gar keine Kraft, es jeden Morgen aufs Neue zu versuchen. Oft reichen schon die ersten Nachrichten im Radio aus, um uns in einen Zustand von in etwa: „Ich muss, hab keine Lust, fühle mich flau und muss aber doch wirklich raus, und da draußen tobt die Welt, im Bett ist doch alles schöner“ zu versetzen. Wir hören im Morgenwecker, welche Cornflakes am besten schmecken, wann es wieder regnen wird, ob unser Bundeskanzler heute einen Auswärtstermin hat. Wir werden daran erinnert, unsere Uhr umzustellen, wenn es Zeit ist, wir erfahren, ob es in unserer Stadt Events gibt, die wir auf keinen Fall verpassen dürfen, koste es, was es wolle. Wir werden pünktlich zum Frühjahr mit dem Flug der aktuellen Pollen so vertraut gemacht, dass wir uns überall in Acht nehmen, denn schon an der nächsten Ecke könnte uns eine erwischen. Und langsam nehmen wir, in der Blüte der Stadt und unseres Lebens, sanft beim Erwachen, noch mehr unbewusst wahr: Nicht wir regieren hier, sondern es sind diese unterbewussten blühenden Pollen, die sich überall ausbreiten und ständig mehr Macht über uns gewinnen. Es sind diese kleinen Belästiger, die uns den ganzen Tag über den letzten Nerv und die Konzentration rauben. Unsere ganzen Gedanken nehmen sie in Anspruch, fliegen kreuz und quer und tauschen sich dabei so blitzschnell aus wie auch der Wind an uns vorbeifährt. Und während all dies unbewusst geschieht und wir im sanft drückenden Pollenflug unserer Gedanken so in den letzten Zügen unseres Schlafes liegen, um uns langsam aufzuraffen, da hilft es uns doch, dass wir wissen: Er damals, er war schon tot und hat es geschafft, trotzdem wieder aufzustehn. Und wir fragen uns: Wie hat er das gemacht? Vielleicht gab es ja damals noch nicht so viele Pollen, die einem das Leben vergällt haben. Oder ist die Allergie ein nicht auszurottendes Übel, das schon seit jeher in der Welt ist? Wie alt ist der Pollenflug? Und Er, war er auch allergisch, oder ging es ihm einfach gut, weil es damals noch keine Radios gab. War es deshalb möglich, die heiligen Nachrichten zu empfangen, weil es noch keine Pollen gab, die unsere Sensorik gestört haben? Fragen über Fragen in unserem Kopf. Zeit, aufzustehn!

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