Ein Märchen
Es war einmal in längst vergangenen Tagen, damals, als die Erde noch ein Wunschplanet war, auf dem jedem Menschen alles aufrichtig von Herzen Gewünschte zuteil wurde und in Erfüllung ging, als ein kleiner Junge zur Frühlingszeit im Wald unter den zwitschernden Vögeln auf einem Baumstamm saß und vor sich hin träumte.
Da geschah es, daß sich ihm eine kleine Biene auf sein Händchen setzte und zu ihm sprach: Gelt, mein großer Freund, hier im Grünen ist es doch am schönsten. Hier ist Natur ganz in sich versammelt und an nichts ist ein Mangel-, lächelte das Bienchen freundlich und summte davon.
Als der kleine Mann nun weiter immer so fort träumte, da trat ihm auch das Bienchen wieder in den Sinn, und er dachte an den Eifer, mit dem sie ihr Tagwerk vollbrachte und der ausgeglichenen Fröhlichkeit, die ihr darüber nie verloren ging. Und weil er ein wenig hungrig war und ihm der Appetit die Lust dazu gab, da sprach er: „Ich wünsche mir einen cremigen Honig, zart wie die Indische Seide und golden wie die Sonne.“ Sogleich hielt er eine weiche Holzschale in den Händen, die war gefüllt mit dem feinsten Honig, der nun in den wundervollsten Farben in den Strahlen der Sonne glänzte. Sogleich tauchte der Junge seinen Finger in die Schale und genoß mit aller Wonne dieses wunderbare Geschenk der Natur. Und wie er nun so seinen lieblichen Honig schleckte, da wurde ihm auch das Leben mit einem Male so sehr süß, daß er sprach: „Ich wünsche mich in die Südsee, auf eine weiße Insel mit prachtvollen Palmen, die sollen vor dem weiten Meer im Wind stehen, und das Meer, das soll so blau und so tief sein wie der Himmel, und die Sonne, sie soll am Morgen und am Abend so vollmundig auf- und wieder hinuntersteigen, daß es mir das Herz ganz ausfüllt und die Seele im allerschönsten Gleichklang sich darin wiegen mag.“
Und weil es des kleinen Menschen aufrichtiger und kräftiger Wunsch war, befand er sich sogleich auf einer Insel, die war so ganz nach seinem Geschmack, mit einem Sand, so fein, wie ihn nur das ewige Meer zu waschen vermag und einem Wind, der, wenn man ihn riecht, heimlich flüstert, von weit her gekommen zu sein, behütet von einer Sonne, die so weich war wie ein Pfirsich und ihren Lichtatem über die weite See tauchte.
So saß der kleine Mann denn nun am Meer im Sand und blickte über die Weiten des Wassers, die er nicht verstehen konnte, und die ihm doch ein Ahnen von großen Geheimnissen in die Seele gaben, um die man weiß und bei denen einem die Sprache stillesteht, weil sie so weit sind und man sie so nahe bei sich fühlt. Es war, als wollte ihn das Leben unsichtbar machen, um ihn so ganz zu durchdringen.
Als er nun für kurz hinter sich schaute, da entdeckte der kleine Mann unter einer Palme eine alte hölzerne Truhe. Sogleich lief er hin, um zu sehen, was es damit wohl auf sich habe, und weshalb eine solche Truhe gerade jetzt zu dieser Stunde für ihn auf der Welt ihren Platz gefunden hatte. Und wie er nun so davor stand, da las er ins Holz geritzt die Worte: Vorsicht Liebe! Nur in besonderen Fällen öffnen!
Der kleine Junge wurde nun ganz aufgeregt, und sein kleines Herz schlug ihm voller Neugierde auf die Brust. Mit aller Kraft hob er nun den schweren Holzdeckel der Truhe mit seinen kleinen Fingern nach hinten, so daß er schließlich unter einem gutmütigen Quietschen nachgab, das weise von seinem Alter sprach. Wie sehr enttäuscht aber war nun der kleine Mann, als er nach all der Mühe auf das große Geheimnis blicken wollte; denn da er die Liebe noch nicht kannte, war die Truhe ganz leer und beherbergte nichts als einen alten, modrigen Geruch.
Da ging er vor ans Wasser, ließ die Wellen um seine Füße spülen und schaute weit fort. Als er sich nun umblickte, da war auch die alte Truhe schon nicht mehr da, und alles war wie zuvor. Geblieben war ihm nur dieses Wort in seinem Ohr, von dem er nicht wußte, was es zu bedeuten hatte. Und weil er so jung war und alle Hoffnung der Welt hatte, da ging er mit festen Schritten weiter auf die Wellen zu und schrie mit lauter Stimme, so fest als wolle er das Meer in all seiner Weite unter seine Gewalt zwingen: „Ich wünsche mir Liebe!“
Und als er nun seinen Blick schweifen ließ, da sah er in einiger Entfernung ein Mädchen stehen, das nun in aller Freude der Welt das Laufen begann und auf ihn zu rannte.
Wie er das sah, da begann auch ihn eine überlebendige Kraft in die Bewegung zu setzen, und so lief er ihr nun mit nicht weniger großen Schritten entgegen als sie ihm.
Schließlich blieben beide in kurzer Entfernung stehen und schauten einander an. Der kleine Junge sah nun, daß sie eine Prinzessin war, die in einem lebendigen, bunten Kleid allen Atem der Welt in sich vereinigte, und in ihren Augen, da funkelte die Sonne hell als ein Spiegel der weiten Schöpfung. Und weil der kleine Mann ein Herz hatte, da war ihm, als sei es vor Glück gerade soeben für kurz stehengeblieben. Alles strahlte nun in ihm, und in seinem Glück sprach er zu dem Mädchen unschuldig: „Du mußt Liebe sein.“-, nickte die Prinzessin gutmütig, nahm seinen Kopf in die Hände und gab ihm zärtlich einen Kuß auf die Wange.
War er zuvor noch glücklich gewesen, so war er jetzt überglücklich. Es hüpfte ihn über die Erde. Er lief zum Meer und tauchte seinen Kopf in das Wasser. Und in seiner Frische und allem Übermut, der dazukommt, kam ihm nun erneut ein Gedanke, und in seiner Unschuld rief er aus: Ich wünsche mir Ewigkeit. Als er aber jetzt in all seinem Glück zu Liebe zurücklaufen wollte und sich umdrehte, da war niemand mehr zu sehen, und alles war wieder wie vorher.
Da warf sich der kleine Mann in den Sand und weinte bitterlich. Und mit seinen Tränen, da liefen ihm nun all die zärtlichen Gedanken an Liebe durch den Kopf, die Ewigkeit aber war schnell vergessen.
Und er war so traurig wie ein kleiner Mensch nur traurig sein kann, und als die Sonne schon tiefrot geworden war und bald in die Nacht hinuntersteigen wollte, da saß er immernoch da und weinte Tränen in den Sand.
Weil er so nahe beim Wasser saß geschah es, daß eine seiner Tränen nicht im Sand versickerte, sondern mit den Wellen ins weite Meer hinausgespült wurde. So irrte die Träne lange Zeit im weiten Ozean umher, bis sie schließlich von dem Auge eines großen, gutmütigen Wales aufgefangen wurde. Und als nun das Auge des riesigen Wales die Träne spürte, da wußte er, daß irgendwo auf der Welt ein Kind traurig ist und weint. Es wurde ihm ganz weh ums Herz, und in seinem Kummer über die Tränen des Kindes stimmte der Wal ein Singen an, das in der ganzen, weiten Schöpfung zu hören war.
Als die Sonne nun den traurigen Gesang vernahm, da wurde auch ihr das Herz ganz traurig, und sie sprach zu Vater Mond: „Welchen Wert hat es, wenn ich weiter die Erde beleuchte, solange auch nur ein Kind auf ihr weint und sich nicht meiner freuen kann?“,- sprach Vater Mond zu Mutter Sonne: „Du hast ganz recht, liebe Sonne, auch ich mag nicht länger durch dich in die Nacht scheinen, solange auch nur ein Kind noch Tränen weint. Laß uns etwas tun und diesem kleinen Jungen helfen, der so traurig am Strand sitzt und sich unsrer nicht mehr freuen kann.“
Und kaum hatte der Mond diese Worte gesprochen, da blitzte es hinter dem kleinen Mann für kurz hell auf, und als er sich umdrehte, da sah er, daß die alte Truhe wieder auf dem gleichen Platz unter der Palme stand, wo er sie einstmals schon entdeckt hatte.
Eilig lief er hin und hob nun so schnell er konnte den Deckel der Truhe hinweg. Da sah er Liebe in einem leuchtenden Kleid auf einem weichen, seidenen Kissen schlafend in ihren Träumen liegen. Und wie er sein Gesicht nun über das ihre beugte, da lief ihm vor so viel Glück eine Träne über die Wangen und fiel hinab auf ihre zarten Lippen. Da schlug sie ihre Augen auf, schaute ihn lächelnd an und sprach: „Es ist gut, daß du weinen kannst,- du hast mir zweimal das Leben gerettet.“ Darauf nahm er sie zärtlich in seine Arme, und sie ruhten glücklich und zufrieden in den neuen Morgen.
Der Mond lächelte gutmütig, und die Sonne strahlte mit einer solchen Freude in den neuen Tag, daß über der ganzen Welt ein ewiges Lachen war.
Und noch heute sehen die Kinder, wenn sie in der Nacht zu den Sternen hinaufschauen, wie ein kleiner Mann Liebe umarmt und der weiten Schöpfung ein Lächeln schenkt.