Band 2 – 3.0 – Der Zahn der Zeit

Der Zahn der Zeit

Winternebel senkt sich

Und das Volk verrenkt sich

Am Morgen schon die krummen Füße,

Vergißt sein Heim und alles Süße

Und rauscht zur Arbeit weit und breit,

Weil’s halt so ist und jeden freut.

Hätt‘ ich nur einen Schimmel,

Ich wär‘ schon lange fortgeritten,

Von hier bis mindestens zum Himmel

Oder gezogen mit Gebimmel,

Fortgeflüchtet mit dem Schlitten

Jetzt, grad‘ so vor der Weihnachtszeit,

Wo jeder Streß hat, sich kaum freut

Und alte Lieder wiederkäut-

Wie gutmütige Kühe

Entsteht von Jahr zu Jahr die Mühe,

Daß man nicht weiß, was man nicht braucht

Es darum kauft und sich zerschlaucht

Auch wenn es sinnlos ist und staubt,

Selbst wenn’s gestohlen und geraubt.

Hauptsach‘, man hat was, weil man glaubt,

Daß dies der Brauch ist, dem man folgt,

Als bis das Aug ins Grabe rollt.

Es ist die Gabe, das zu tun,

Wonach man meistens fragt: Was nun?

Und wieder tut und sei es drum.

Kurzum: der ganze Weihnachtsklos,

Der uns im Hals steckt, kommt nicht los

Und wiederholt sich Jahr für Jahr

Und’s Christkind war schon wieder da,

Und wir haben es kaum bemerkt

In den Geschenken, diesem Berg,

Der wie zum Himmel ragt, so hoch,

Uns niederdrückt, dann wie ein Joch

Und schließlich wieder fragen läßt,

Warum uns oft die Kraft verläßt

In diesen schönen Feiertagen,

Umrahmt von sinnlosen Gelagen,

Von Mast, Buffets und vielen Bräuchen

Von Spendenfluten, die wie Seuchen

Uns einmal jährlich überfallen,

Damit auch ja die Schulden allen,

Die sonst nichts tun, erlassen sind

Wie einem frechen, kleinen Kind,

Das sich einmal im Jahr entschuldigt,

Indem es einem Zwecke huldigt,

Von dem es glaubt, es lohnt das Geld:

So denkt beinah‘ die ganze Welt.

Es ist ein Zerren und ein Zieh’n,

Ein Überfallen und ein Flieh’n,

Ein Hin und Her und Hin und Wieder

Und reicht in etwa bis zum Flieder

Des Frühjahr eines Folgejahres,

Wo man dann glücklich sagt, das war es.

Der Winter ist endlich vorbei,

Das Christkind ist uns einerlei.

Jetzt fühlen wir uns wieder frei,

Wie neugebor’n und sind dabei

Uns ganz von vorne aufzuschwingen

Nach hinten noch vorhand’nen Dingen,

Nach Hyazinthen und Jasmin

Und wie die Blumen woll’n wir blühn

Uns sei’s nur einen Sommer lang-

Ein jeder Mensch verspürt den Drang,

Die Lust, das unbedingte Sollen,

Gelenkt von einem fremden Wollen,

Das in uns wütet wie die Diebe,

Wie eine fremde Satansliebe

Wie eine Lust, die in uns haust

Uns jauchzen macht, leidend, die braust,

Die in uns tobt wie fremde Wellen

Und überrascht wie Stromesschnellen-

Und Gück bringt und ein zähes Quälen,

Und die wir wenn sie fort ist missen

Und ist sie auch komplett beschissen.

So geht es einen Sommer lang

Mit uns’rer Lust und uns’rem Drang,

Mit Fleisch, mit Körpern, Dunst und Schweiß,

Mit Strand, Girland‘ und Erdbeereis,

Bis dann die Jahreszeit vergreist,

Dem Herbst den rechten Platz anweist.

Und schließlich, wie ein erster Nebel,

Schiebt sich der Dunst, so wie ein Knebel

In uns’re Hälse, uns’re Körper

In uns’re Häuser, in die Dörfer

Und legt ein ganzes Völkchen lahm,

Das kaum noch aus der Hitze kam

So geht’s dahin jahrein jahraus,

Ein Jahr wechselt das and’re aus,

So geht’s bis über uns hinaus,

Das Jahr hinein, dann wieder raus.

Und’s nagt der Zahn, so wie die Maus

Uns mit der Zeit die Zähne weg,

Und schließlich bleibt nicht mal ein Fleck

Vom Paradies, von uns’ren Sachen

Vom Christkind und von uns’rem Lachen,

Vom Flieder und der Frühlingszeit,

Vom Sommer und der Lieblichkeit,

Vom Herbst, von seinen sanften Nebeln,

Die uns so automatisch knebeln-

Von allem, was mit uns entsteht

Ist klar, daß es zugrunde geht

Und nichts bleibt mehr, was wir geseh’n

Nicht ‚mal das Auge bleibt bestehn,

Und was wir heute früh noch glauben,

Wird einst die Dunkelheit uns rauben.

Im Staub, im Nichts endet der Lauf,

Entkörpert sich, hört schließlich auf.

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