Wie die Ameise im Sand
04/05/2003
Tor Norretranders zitiert in seinem Buch „Spüre die Welt – Die Wissenschaft des Bewusstseins“ Julian Jaynes, der in seinem Buch „Der Ursprung des Bewusstseins“ 1976, folgendes schrieb: „Das Bewusstsein macht einen sehr viel geringeren Teil unseres Seelenlebens aus, als uns bewusst ist – weil wir kein Bewusstsein davon haben, wovon wir kein Bewusstsein haben. Leicht gesagt, aber schwer einzusehen! Es ist, als verlange man von einer Taschenlampe, dass sie in einem dunklen Zimmer einen Gegenstand ausfindig macht, der im Dunkeln bleibt. Weil es überall hell ist, wohin die Lampe ihren Strahl richtet, muss sie daraus schließen, dass der ganze Raum erleuchtet ist. Genauso kann der Eindruck entstehen, als ob das Bewusstsein das ganze Seelenleben durchdringe, auch wenn dies nicht im Entferntesten der Fall ist.“
Es gibt also in uns Menschen etwas Unsichtbares, das uns beeinflusst und steuert, wovon wir allerdings bewusst eine nur sehr begrenzte und ungenaue, teilweise auch gar keine Vorstellung haben. Selbst beim Denken, von dem wir meinen, es ist eine bewusste Aktivität, müssen wir uns eingestehen, dass auch dieser scheinbar so greifbare Vorgang eine Grenze ins Unsichtbare und Begrifflose in uns hinein überschreitet, aus der er dann wieder in Form von Begriffen und Resultaten – und auch das nicht immer – bei uns auftaucht. Diesbezüglich schrieb schon Schopenhauer: „Das eigentliche Leben eines Gedankens dauert nur, bis er an den Grenzpunkt der Worte angelangt.“
Das heißt zusammengefasst: Wir stehen mit uns selbst auf eine sehr verschlungene Art ganz schön im Dunkeln. Wir leben aus einem dunklen Grunde, der wir eigentlich sind. Tief in uns braust ein Ungeheuer und ein Gott und lebt uns. In uns bestehen Welten, von denen wir keine Ahnung haben. Aus einem Unsichtbaren, das wir sind und nicht kennen heraus, leben wir uns, nehmen wir wahr, selektieren wir, fällen wir Urteile und schaffen wir unsere kleine Welt.
Selbst das Bierglas, das wir auf einer Südtiroler Jausenstation mit einem Freund prostend zum Mund führen, ist nicht für jeden Berggänger gleich gelb und gleich frisch. Wir können uns vielleicht noch über die Farbe Einigkeit verschaffen, aber wir können nicht genau wissen, ob sich das Gelb, das wir sehen, mit dem des Freundes irgendwie deckt. Und ein Eskimo würde in unserem Bier zunächst einmal vielleicht eher Urin mit Schaum vermuten und nur nach dem ersten Schluck, sofern er sich zum Trinken hinreißen lassen würde, übereinstimmen, dass wir das Zeug Bier nennen. Da die Welt, in der ein jeder von uns lebt, so ungeheuer subjektiv ist, nimmt es Wunder, dass doch noch über so vieles auf unserem Planeten Einigkeit herrscht, zumindest in dieser letzten und zugleich fraglichsten Form der Übereinstimmung, auf der Ebene der verbalen und schriftlichen Kommunikation und zuletzt auch auf der Ebene des Handelns.
Das heißt aber, wenn man ehrlich ist, dass wir vom Nächsten ungefähr soviel Kenntnis haben, wie vom nächsten Planeten, auf dem es lebende Wesen gibt. Wenn uns unser Partner mitteilt, dass er uns liebt, dann hat das unter dem Aspekt übereinstimmender Wahrnehmung betrachtet eigentlich ungefähr soviel Wirklichkeitsgehalt und Tiefgang wie die letzte rote Ameise, die sich völlig durstig auf ihren letzten Gang durch die Sahara macht und schließlich im Sand versinkt. Denn wir können nicht exakt wahrnehmen und also wissen, was der andere fühlt und wahrnimmt, während er mir sagt: „Ich liebe Dich“. Also: Im Gleichklang schlagende Herzen schlagen total verschieden.
Liebende Pärchen und sterbende Ameisen haben allerdings gemeinsam, dass sie uns unter dem Vergrößerungsglas der letztendlichen Wahrheit irgendwie anrühren und Gefühle auslösen, die bei ersteren kurz vor dem Mitleid Halt machen, im zweiten Fall aber unbedingt bis zum Mitgefühl voranschreiten. Dabei bin ich mir völlig bewusst, dass Mitleid haben vom Standpunkt letztendlicher Wirklichkeit aus betrachtet ein völlig unnützes Ding ist. Was weiß ich schon, wie Du auf Dein Mitleid schaust, ob Du genauso mitleidig auf die Ameise schauen kannst wie ich. Vielleicht ist Dein Mitleid ja nichts weiter als ein Hoffen, dass die Ameise möglichst bald verreckt, während ich mich vielleicht gleich in den nächsten Flieger setze, um das arme Tier noch rechtzeitig zu retten.
Vielleicht fühlt das Tier ja nicht nur, dass es da in der Wüste völlig heiß ist und es kein Wasser gibt. Vielleicht fühlt es sich auch einsam, vor so viel Sand und Weg, und das im Angesicht eines nur noch kurz währenden Lebens. Mit einem letzten Seufzer steckt das Tier endgültig und ein letztes Mal den Kopf in den Sand. Die Macht, die es erlöst und die Ewigkeit, die es aufnimmt, der Gott, der die Arme in den Arm nimmt, nach dieser kurzen tragikkomischen Qual, es ist dieselbe, die in uns und um uns irgendwo und ständig herumgeistert. Es ist der Gleiche, der uns, wenn wir den Kopf in den Sand stecken wollen, irgendwie auffängt und wieder leben lässt. Und es ist der Gleiche, der uns aufnimmt, wenn wir uns aus dieser ganz merkwürdigen, subjektiven und verworrenen Wirklichkeit in eine andere hinaus schleichen. Sicher werden wir dann mehr verstehen als jetzt. Und wir können noch sicherer sein, dass wir unsere Sprache und alle Worte und Bedeutungen, dort drüben vor der Pforte abgeben wie einen alten Hut, den wir fortan nicht mehr brauchen. Wir sehen dann, dass das Mitleid mit der Ameise völlig überflüssig und dennoch unendlich notwendig war. Wir sehen auch, dass die Widersprüche und die Abgründe, die unsere subjektiven Farben machen, mehr als notwendig sind. Und wir sehen, dass wir alle Narren sind. Wie wunderbar. Wir können gleich damit anfangen, darüber zu staunen und zu lachen. Es ist so herrlich sinnlos, ein sinnvolles Leben zu führen.