Was unter die Haut geht
12/05/2002
Unter die Haut geht uns während der Tag lang ist so allerlei. Man setzt sich auf einen Gemeinplatz und schon merkt man, wie die vergehende Zeit und alle unmerklich mit ihr verbundenen Tagesereignisse leise an uns vorbei oder aber, so ganz nebenbei, in uns hinein fließen. Und wie wir so auf der Zeit sitzen und uns auf dem Film ausruhen, den sie vor uns abspielt, da sehen wir, wiederum so ganz nebenbei – und es ist ja wie gesagt auch nur ein Film – eine riesige gelbe Welle auf uns zu kommen. Da wir gelbe Wellen noch nicht kennen, sondern bisher nur mit gewöhnlichen Wellen wie beispielsweise unsichtbaren Funkwellen oder Furcht einflößenden Flutwellen vertraut sind, holt uns die neue gelbe Welle unvorbereitet ein. Erst als wir hören, dass es sich bei der gelben Welle um eine zwar ungemein ehrgeizige, allerdings jedoch politische Welle handelt, machen wir einen kleinen Haken an unser für kurz aufgebrachtes Herz. Mit der Westerwelle lässt sich leben, so denken wir. Es ist ja nur eine Welle, die sich bunt wie die Spektralfarben der Sonne neben rot und schwarz auf den politischen Frühling des Wahljahres legt. Und ihr eisiger politischer Kälteschauer wird uns dann auch nicht zu sehr schocken, sondern eher wie ein kleiner, merkwürdig leuchtender Bach leise und beständig an uns vorbei rieseln. Schlimmer als eine Westerwelle wäre da beispielsweise eine Westernwelle oder eine Lästerwelle, die ganz persönlich und bewaffnet über uns herein brechen könnten. So aber pusten wir uns den Staub von der Haut und bleiben ruhig auf dem Stuhl sitzen, an dem die Zeit vorbei fließt….
Dann aber kommt etwas vorbei, das droht wirklich Ernst zu machen. Zum Glück noch weit weg, aber man weiß ja nie. In Florida hat sich eine dreiköpfige Familie nämlich in diesen Tagen den ultimativen VeriChip unter die Haut implantieren lassen. Außer Insidern weiß das zwar keiner, aber darum geht es ja auch nicht wirklich. Wichtig ist nur und darauf achten wir: Unter der Haut sitzt den Dreien der reiskorngroße VeriChip. Der enthält nun medizinische und persönliche Informationen, die im Ernstfall Leben retten können. Bei der 46-jährigen Mutter weist der VeriChip auf einen Herzfehler hin. Eine Information, die Gold wert ist. Wir stellen uns also die Frau vor, die – Gott bewahre, aber wir nehmen es einmal an – plötzlich einen Herzinfarkt bekommt. Weil sie Glück hat, ist sofort medizinische Hilfe zur Stelle. Auf dem Weg ins Krankenhaus erzählt die Frau dem Arzt mit letztem Atem, dass sie einen Herzfehler hat, was er allerdings mit Leichtigkeit auch ihrem implantierten VeriChip hätte entnehmen können. Die Infos sind im Nullkommanichts aus dem Chip raus zu scannen. Röchelnd schafft es die Frau noch kurz vor der vollständigen Ohnmacht – wir nehmen einfach mal an, sie kriegt in letzter Sekunde noch die Kurve – dem Arzt mitzuteilen, dass der Chip nur 450 Dollar gekostet hat und der Zugang zur Datenbank mit den Patienten-Informationen nur 9,95 Dollar im Monat kostet. Der Arzt hat zwar keine brauchbaren Geräte, um die Infos des Chips, der unter die Haut geht, zu scannen, aber er ist ein echter Freund und rettet die Herzdame trotzdem. Da sagen wir doch einfach mal „Glück gehabt“ und „Danke“. Denn ohne den VeriChip wäre uns die Geschichte sicherlich nur halb so tief unter die Haut gegangen.
Verleumder der Technik und Verflucher von allem, was da kommt, würden jetzt natürlich sofort aufstehen und an Stelle des VeriChips das gute alte Halsband als günstiges und effizienteres Äquivalent anbieten. Aber erstens klingt VeriChip besser, weil man hier ohne weiteres davon ausgeht, dass sich dahinter die ultimative Wahrheit verbirgt und zweitens ist der VeriChip auch zeitgemäßer. Drittens aber, und das ist wohl der schlagendste Grund von allen: Der VeriChip geht viel tiefer unter die Haut. Und das gibt es ja heute kaum noch, dass uns Informationen über uns selbst so tief berühren, anrühren, umrühren und vor allem: klipp und klar über uns Auskunft erstatten. So überlistet sich das Unikum Mensch wieder einmal selbst, indem es sich seine ganz eigene Wahrheit implantiert. Und schon Morgen wird der halbe Erdball wie eine Horde von Sehern von VeriChips bevölkert sein, die für 9,95 Dollar Auskunft darüber geben, dass wir zuckerkrank, nikotinsüchtig, melancholisch oder wenigstens hochgradig schizophren sind. Dafür danken wir nicht nur der Firma, die sich den Helfer in der Not ausgedacht hat, nein, wir danken auch noch gleich dem Lieben Gott dazu, der das alles so wellenartig wie die Glorreichen Sieben über uns hereinbrechen und uns an seinem Segen teilhaben lässt. Und wie eine Kugel, so tief schießt es uns unter die Haut, dass Einstein einst behauptet haben soll: „Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.“ Deshalb wissen wir, dass hier wie immer, wenn der Allmächtige die Finger mit im Spiel hat, alles seine letztendliche Richtigkeit hat. Und das sollte sich darum auch jeder, der sich einen VeriChip einpflanzen lässt wie eine Blutsbruderschaft mit unter die Haut ritzen: Alles wird gut!