Die Verweigerung der Ohren

Die Verweigerung der Ohren
16/07/2002

Das Ohr ist ein sensibles Sinnesorgan. Es hilft dabei, dass wir uns in der Welt orientieren können. Wie ein Geräuschbettler fängt es alle Töne und Laute aus der Umgebung sicher ein und sammelt sie auf, um sie dann irgendwo in uns für immer aufzubewahren. Sicher und völlig taub gegen irgendwelche Einwände legt es alles ab, ohne Zäsur, ohne Komma, ohne Punkt. Selbst wenn wir uns erkälten, tut es uns manchmal weh, aber wer käme auf die Idee zu behaupten, es würde deshalb gleich aufhören zu hören. Das Ohr an sich scheint doch der allumfassende Urlaut zu sein, der sich nur in den unendlichen Facetten der Klangerscheinung reflektiert und in uns spiegelt. So wissen wir also: Tief in uns sind wir ein dumpfer, rauschender, brausender Urlaut. Wer Ohren hat zum Hören, der…soll Gott bekanntlich dennoch nicht lästern. Was aber, wenn das Ohr, das doch mehr ein Phänomen als ein Ohr an sich ist, selbst sich wehrt und zwar ganz offensichtlich, für jeden einsehbar und noch schlimmer: sichtbar? Und wenn es sich schon wehrt, so fragen wir doch unweigerlich: Wogegen wehrt es sich? Was zwingt es zur Rebellion? Wogegen lehnt es sich auf? Wer ist der Feind?

Die Frage ist knifflig, und wir kommen ihr nur langsam auf die Spur. Wir spüren also tiefer. Wir suchen die Ursache, schauen uns aber zuvor das Wie, die so menschliche und doch feine Form der Auswirkung genau an und nehmen unter die Lupe, was so sanft und doch störend rebelliert. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass es seltene Momente gibt, in denen wir uns vor dem Spiegel genauer anschauen als sonst. Vielleicht drängt uns gerade niemand, oder wir versinken beim Zähneputzen in Gedanken, während dessen wir uns eingehender als gewöhnlich mustern. Und wie wir so da stehen, versunken vor unserem Spiegel, tut die Zeit das ihre und… vergeht. Und mit ihr vergehen unsere Pickel. Ab und zu drückt uns noch ein Mitesser, aber wir dulden keine Parasiten und wissen was zu tun ist. Wir sehen die ersten Falten kommen, doch entgegengesetzt der Pickel machen sie keinerlei Anstalten mehr zu verschwinden. Sie nisten sich ein, werden tiefer, wollen bleiben. Meistens kommen wir gar nicht so weit, gefangen, eingenommen und im Beschlag unseres eigenen Gesichts weiter zu schauen, tiefer zu schauen, genauer hin zu sehen. Doch dann, eines Tages, da geschieht das Unerwartete, das, was – warum erinnern wir uns erst jetzt – uns schon an unserem Großvater einst aufgefallen war, was wir aber an uns selbst nie vermutet, ja nicht einmal im Leisesten erahnt hätten: Wir finden Haare auf unseren Ohren. Haare auf unseren Ohren. Hören Sie sich das mal an: Haare auf den Ohren. Das geht tiefer rein als jede Petersilie, die sich die Römer je gegen Troubardix in die Hörmuschel gestopft haben, das sitzt verwurzelt in uns und… es wächst.

Wie wir wissen, ist es nicht nur eine Neigung des Menschen an sich, sondern auch des Haares an uns, sich gerne anzulehnen. Von daher können wir ableiten und beobachten, wie es sich auf unserer Hörmuschel ausbreitet, um schließlich, wenn wir nicht aufpassen, so ganz und gar in sie hinein und auf Immer und Nimmerwiedersehen zu entwachsen. Es gibt also Dinge, die wachsen uns über den Kopf, Dinge, denen wir entwachsen und – was wir noch nicht wussten: Dinge, die wachsen in uns hinein.

Da hilft nur Vorbeugen und dem Feind den Garaus machen. Wir lassen uns nicht gefallen, was das kommende Alter und die Natur im Schilde führen. Wir wollen den Feind ausrotten und greifen an. Aber womit? „Erkenne die Taktik des Feindes, und Du wirst ihn leicht besiegen“, wissen wir aus Asien, wo der Schwertkampf seine Heimat hat. Was aber fangen wir nun mit einer so tiefen Weisheit an. Spätestens jetzt wollen wir uns beinahe geschlagen geben. Wo wollen die Flimmerhärchen hin, was werden sie im Ohr mit uns tun, wie tief sitzt die Wurzel, und warum soll ich mich selbst verletzen? – Das sind alles Fragen, die uns wohl so durch den Kopf gehen. Wir denken an ein Messer, sehen aber ein, dass es gegen blonde Flimmerhärchen, die sich gerade ausbreiten wollen, nicht das richtige Mittel ist. Am Ende denken wir dann an Vertrauen, eine Pinzette und an unsere Freundin, die den Job in einem guten Moment übernehmen könnte. Aber das wäre ganz schön intim. Vielleicht gefällt ihr ja unsere Hörmuschel nicht. Vielleicht hat sie die Invasion auch schon lange bemerkt und nur aus einer Mischung aus Peinlichkeit und Höflichkeit heraus nichts gesagt. Wir wissen es nicht. Aber wir wissen: Außer ihr knabbert ja sonst niemand am Tunnel zum Urlaut herum. Also werden wir fragen. Gebe Gott, dass es gut gehe.

Und doch: Im Grunde wissen wir, dass wir diesmal mit der Wurzel nicht die Ursache ausreißen. Wir haben jetzt die Dreißig hinter uns und sind nicht mehr so profund wie einst. Wir wollen uns einbilden, wir kennen die Ursache. Doch das wäre gelogen, wissen wir auch. Also werden wir den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen und – wie lange ist das eigentlich her – mal wieder in uns hinein hören. Und wir hören die Tagesschau und die Tageszeitung, wir hören müde Tischgespräche und die Zahlen der letzten Steuererklärung, Drohungen von Terroranschlägen, Pleiten, das Brutzeln der Bratpfanne, deren fettige Hitze uns hat dick und träge werden lassen, wir hören das Rauschen der Stadt, die Nachrichten aus dem Radio am Morgen im Wagen und einen Dow Jones, der als alter Knabe in den digitalen Kanälen des Kapitals Stufe um Stufe sinkt, um dabei sein schlechtestes Niveau zu unterschreiten. Und jetzt, wie wir so still vor uns stehen, Ruhe einkehrt und für einen kurzen Moment die Zeit stehen bleibt, da spüren wir, dass hier der Heilige Geist am Werk ist, der für dieses Mal die Hintertür nimmt, und nicht die Türen für die Sprache des Herrn öffnet. Und wir erkennen, dass der Gott in uns Schmerzen hat, wirkliche Ohrenschmerzen, weil er unseren Wischwasch und Mischmasch, Kleinkram und Wortmüll nicht mehr länger unter seiner Oberfläche ertragen kann. Und er rebelliert, jetzt, endlich, in der Nähe der nächsten Bundestagswahl, wo ihm die Diskussion und Scheinheiligkeit der Debatte und nicht zuletzt das Reiz- und Antiwort an sich: „Senkung der Arbeitslosenzahlen“ als Dreck aus der Hörmuschel überquillt. Und jetzt endlich verstehen wir und erinnern wir uns an die spannenden Jahre der Jugend, als wir uns das noch nicht wirklich angehört haben und stellen den Kampf ein, nicht ohne heute Nacht gebetet zu haben: Herr lass Flimmerhärchen wachsen und verschließe mir die Ohren, mindestens bis Ende September.

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