Im freien Fall
01/07/2003
Im Freien Fall die Erde auf sich zukommen zu lassen, scheint so langsam – ganz egal ob mit oder ohne Fallschirm – gleich gefährlich zu sein. Denn entweder geht etwas schief, wie erst gestern bei einem Tandemsprung in Albstadt-Taiflingen, oder aber der Flieger weigert sich einfach, selbst den Notschirm zu ziehen und lässt sich sicher auf dem Grund unseres Planeten aufprallen, als wäre er selbst ein ewiger Meteorit, der aus dem Universum heraus geradewegs hier unten bei uns seine letzte Heimat gefunden hätte. Diese Freiheit des freien Falls scheint etwas zu sein, was dem Tod damit also nur ein kleines Stückchen Zeit zuvorkommt. Dabei ist es doch der Wunsch des Menschen, sich einmal nur gehen lassen zu können, Fünf gerade sein zu lassen und sich aus der Schwerkraft, die ihn umfängt, für einen Augenblick auszulösen und nichts zu tun, als gedankenlos zu fliegen.
Nach diesem freien Fall sehnen wir uns, diese Leichtigkeit suchen wir, wenn wir uns durch das stickige Grau des Alltags hangeln, von Stunde zu Stunde umfangen von einer rationalen Schwere, Konzentration und der Genauigkeit, die den rechten Winkel bei zwei gleichlangen Schenkeln, der zwischen uns um seine Gefühle bangt, noch gerade so im Zaum halten, damit er nicht ausbricht, um seinen Radius um ein erfrischendes Detail auszuweiten. Und selbst wenn wir die Bodenhaftung nicht ganz aus dem Auge verlieren, es bieten sich immer wieder Möglichkeiten, in der Tat einmal auszubrechen, oder bei denen zuzuschauen, die es wirklich tun – meistens sonntags, nur für einen Augenblick und immer so, als hätte man das Gefühl von Freiheit und Glück für einen Augenblick wirklich gespürt. Nie so lange allerdings, als dass wir wirklich auf die Idee kämen, uns das Halfter abzunehmen, um uns künftig nicht mehr einspannen zu lassen.
Da ist der Sonntag Nachmittag ein hervorragender Augenblick, um am Nürburgring den großen Preis von Europa zu beobachten, wie er heiß umkämpft bei um die 300 Kmh im Kreis fährt, immer dabei, sich aus seiner Vitrine in die Hände des Siegers zu retten, um nur einmal mit Champagner bespritzt zu werden. Während Raikkönen diesmal nur mit einem Motorschaden davon kam, Coulthard sich im Kreis drehte und Michael sich aus dem Kiesbett ziehen lassen musste, war es für dieses Mal der kleine große Bruder, der sich frei und in den Sieg fahren konnte. BMW hat gewonnen und der Bayerische Motorenhersteller geht auch nach Streiks wieder in eine glückliche Mini-Woche, während man am Coming-Out der neuen Fünfer-Serie feilt – am Halfter selbstverfreilich, im stetigen Ringen um die Freiheit. Wem das noch nicht genug war, der konnte wenigstens gestern noch im ORF einen Hauch von Libertà in Robinson Crusoe erleben. Und wie merkwürdig, seine Freiheit entsteht erst, als er wieder zurück von seiner Insel ins stille Glück und traute Heim, in die Arme seine Liebsten heimkehrt. Zuvor hat er allerdings seinen besten Inselfreund verloren, der wie eine Ironie des Schicksals auch noch Freitag heißt und damit also das Ende einer Woche bezeichnet. Müssen wir also wirklich diesen rechten Winkel erweitern, das Wochenende verlängern und alles hinter uns lassen, um uns wirklich zu spüren? Es bleibt dahingestellt, aber zu hoffen, dass wir immer noch in der Lage bleiben, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen, damit wir aus dem freien Fall nicht in unser seliges Ende stürzen. Denn das kommt bestimmt, so sicher wie uns die Schwerkraft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Bis dahin bleibt uns nichts zu tun, als hier zu sein – und ab und zu ein wenig zu fliegen.